Die 10d wird zu ZWEITZEUGEN ausgebildet

Neben all den Einschränkungen, die mal mehr und mal weniger seit dem März 2020 bestehen, ist es auch schwierig geworden, den Schülerinnen und Schülern wichtige Erinnerungsorte der deutschen Geschichte näher zu bringen.

Da die Vermittlung von Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus ein wichtiges Anliegen bleiben muss, traf es sich gut, dass der Verein ZWEITZEUGEN sein Angebot im Laufe des letzten Jahres auch als Online-Workshop weiterentwickelt hat. Dadurch hatte die 10d der Heinrich-Böll-Gesamtschule am 26.04.2021 die Möglichkeit, sich zu Zweitzeugen ausbilden zu lassen.

Die Durchführung des Workshops konnte durch die großzügige finanzielle Unterstützung des Büros der Antisemitismusbeauftragten des Landes NRW, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, und dem Förderverein der Schule realisiert werden, wofür wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken möchten.

Der Verein ZWEITZEUGEN e.V. hat sich zum Ziel gesetzt, Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu eröffnen, die Schicksale von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen kennenzulernen und durch die Auseinandersetzung mit deren Geschichte selbst zu sogenannten Zweitzeugen zu werden, die dafür Sorge tragen, dass die Geschichten der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nicht in Vergessenheit geraten, wenn diese sie nicht mehr selbst erzählen können.

Online zum “Zweitzeugen”

Zu Beginn des Workshops wurden das Vorwissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sowie deren Erwartungen an den Workshop mithilfe des Onlinetools Mentimeter abgefragt. Nach diesem motivierenden Einstieg befragte die Moderatorin Franziska von ZWEITZEUGEN e.V. die Schülerinnen und Schüler der 10d dazu, wie ein normaler Tag in deren Leben aussähe, um dann sehr anschaulich und eindringlich zu erläutern, welche Einschränkungen der jüdischen Bevölkerung durch die Gesetzgebung der Nationalsozialisten ab 1933 zu erleiden hatten:

Fast alle von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern genannten Tätigkeiten eines normalen Tages wären durch die antisemitische Gesetzgebung verboten worden.

 

Normaler Alltag heute

Welche realen Auswirkungen diese theoretisch dargestellte Diskriminierung und Ausgrenzung für jüdische Menschen hatten, wurde im weiteren Verlauf am Beispiel der Holocaustüberlebenden Michaela Vidláková erläutert. So erfuhren die Schülerinnen und Schüler der 10d, dass Michaela Vidláková 1936 in Prag geboren wurde. Die zuvor besprochenen antisemitischen Gesetze, die nach dem Einmarsch der Wehrmacht auch in Prag galten, führten dazu, dass Michaelas Eltern ihre Anstellungen verloren und in ein sogenanntes Judenhaus umziehen mussten.

Leben im “Judenhaus”

Nachdem ihre Großeltern im Sommer 1942 bereits in das Konzentrationslager Theresienstadt (Terezin) deportiert wurden, musste auch Michaela mit ihren Eltern im Winter 1942 in dieses Konzentrationslager.

Michaelas Vater, der vor seiner Entlassung Direktor einer Pelzfabrik war und nach seiner Entlassung als Holzarbeiter arbeiten musste, fand aufgrund der Erfahrung im Holzgewerbe, die er durch einen für Michaela geschnitzten Holzhund namens Pluto beweisen konnte, eine Anstellung im Konzentrationslager, die die Familie zunächst einmal in Sicherheit brachte.

Trotzdem litt die Familie unter den katastrophalen Hygienebedingungen und der unmenschlichen Behandlung durch die Aufseher. Besonders schwer wog außerdem, dass die Familie voneinander getrennt im Konzentrationslager leben musste und nicht wissen konnte, ob es den anderen Familienmitgliedern gut ging.

Holzhund “Pluto” als Beweis für handwerkliche Fähigkeiten

Michaela musste aufgrund mehrerer Krankheiten ein ganzes Jahr im Krankenhaus des Lagers verbringen. Dort lernte sie einen Jungen kennen, mit dem sie nur Deutsch sprechen konnte, wodurch sie die Sprache lernte. Nach ihrer Rückkehr aus dem Krankenlager durfte Michaela bei ihrer Mutter leben. Im Jahre 1944 sollte der Vater nach Auschwitz deportiert werden. Da sich unter den Häftlingen herumgesprochen hatte, dass der Transport nach Auschwitz einem Todesurteil nahezu gleich kam, wollte die Familie den Vater nicht alleine gehen lassen. Dieser bestand allerdings darauf, alleine den Weg anzutreten. In der Nacht, in der der Zug nach Auschwitz mit Michaelas Vater startete, tobte ein Gewitter über dem Konzentrationslager Theresienstadt, welches viele Baracken des Lagers zerstörte. Da diese wieder aufgebaut werden mussten und dafür Arbeiter gebraucht wurden, wurde der Zug nach Auschwitz gestoppt. Michaelas Vater ergriff die sich bietende Chance und meldete sich freiwillig, um die Baracken wieder zu reparieren.

So schaffte er es aus dem Zug heraus, der der letzte Transport aus Theresienstadt nach Auschwitz war und die Familie erlebte die Befreiung des Lagers gemeinsam. Ein Ausritt auf dem Pferd eines sowjetischen Soldaten ist eine der ersten Erinnerungen an das Gefühl der Freiheit, an das Michaela sich erinnern kann.

Nachdem Michaela Vidláková mit ihren Eltern nach Prag zurückgekehrt war, musste sie leider feststellen, dass nur eine einzige Cousine ihrer Mutter den Holocaust überlebt hatte. Alle anderen Familienmitglieder wurden umgebracht. Michaela, die nun zum ersten Mal in ihrem Leben eine Schule besuchen durfte, und ihre Familie hofften trotz dieser schrecklichen Erkenntnis auf ein freies Leben in Prag. 1952 erkannten sie allerdings, dass die nun herrschenden politischen Verhältnisse auch nicht zu einem Leben führte, wie sie es sich vorgestellt hatten, sodass sie versuchten, nach Israel auszuwandern. Bei der versuchten Flucht nach Israel wurde die Familie festgenommen und musste erneut in ein Gefängnis, da sie nun als Staatsflüchtlinge galten. Trotz dieser neuen Widrigkeiten schaffte Michaela ihr Abitur und studierte Biologie.

Ihre Eltern engagierten sich in den 1990er-Jahren für die Aktion Sühnezeichen und berichteten deutschen Jugendlichen von ihrer Geschichte. Für Michaela war dies zunächst unvorstellbar. Nachdem ihre Eltern gestorben waren, wurde sie gebeten, die Geschichte ihrer Familie in Deutschland zu erzählen. Sie tat dies nur, um das Gedenken an ihre Eltern wach zu halten und nahm sich vor, dies auch nur einmal zu tun. Während ihres Aufenthalts in Deutschland stellte sie allerdings fest, dass die deutschen Jugendlichen nicht mehr die Menschen sind, die sie aus ihrer Erinnerung im Konzentrationslager kannte. Seit dieser Zeit berichtet auch Michaela Vidláková vom Schicksal ihrer Familie und ermöglichte der 10d der Heinrich-Böll-Gesamtschule somit, einen persönlichen Zugang zur Grausamkeit des Nationalsozialismus zu erhalten.

Nachdem die Moderatorin Franziska Nachfragen beantwortet hatte, nahmen die Schülerinnen und Schüler Stellung zu aktuellen Fragen und diskutierten, wie man dem noch immer vorhandenen Antisemitismus und Rassismus in der Gesellschaft begegnen könne. Dies dürfte ganz im Sinne von Michaela Vidláková sein, die sich laut Franziska wünscht, dass die Schülerinnen und Schüler aufmerksam sein sollen und sich trauen sollen, gegen Ausgrenzung und Diskriminierung jeglicher Art aufzustehen und tätig zu werden. Als ausgebildete ZWEITZEUGEN ist dies nun die Aufgabe für jedes Mitglied der 10d, die Autoren dieser Zeilen und im Optimalfall auch für Sie/dich als Leser/Leserin dieses Textes.

Die 10d bedankt sich bei Michaela Vidláková, dem Verein ZWEITZEUGEN e.V. und der Moderatorin Franziska für einen lehrreichen Workshop.

[Julia Goyke Marco Marzischewski]

Weitere Informationen zu ZWEITZEUGEN e.V.: https://zweitzeugen.de/